Family Commitment statt Family Compliance – von der Familienverfassung zur erfolgreichen Umsetzung

Unsere Partnerin Amelie Eichblatt berichtet über ihre Erfahrungen aus der Arbeit mit Unternehmerfamilien in Inhaberstrategieprozessen.

Amelie Eichblatt

 

Seit Januar 2022 verstärkt Amelie Eichblatt als Junior-Partnerin das Team der PETER MAY Family Business Consulting. Im Gespräch mit INSIGHT berichtet sie über ihre Erfahrungen aus der Arbeit mit Unternehmerfamilien in Inhaberstrategieprozessen. Warum das Verhältnis zwischen Familie und Unternehmen nur dann langfristig konstruktiv gestaltet werden kann, wenn eine Familienverfassung nicht als Compliance-Maßnahme, sondern als ein gemeinsames Commitment verstanden wird und wie Family-Governance-Maßnahmen dazu beitragen können, erläutert sie im Interview.   

 

Das Ergebnis eines Inhaberstrategieprozesses stellt oftmals die gemeinsame Erarbeitung einer Familienverfassung dar. Doch wie gelingt der Schritt von der verschriftlichten Familienverfassung zur erfolgreichen Umsetzung?

Amelie Eichblatt: Eine Familienverfassung ist nur so gut wie ihre konsequente und nachhaltige Umsetzung und die ehrliche Verpflichtung der Inhaberfamilie. Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun. Dazu gehört eben nicht „nur“ die Niederschrift von Grundsätzen und Regeln, sondern vor allem ein gutes Projektmanagement, eindeutige Umsetzungspläne sowie die Klärung von Rollen und Verantwortlichkeiten. Grundlegend ist das ehrliche und langfristige Commitment der Familie während des Prozesses, zu den erarbeiteten Inhalten der Familienverfassung und zu den sich anschließenden Family-Governance-Maßnahmen.

Einige Unternehmer und Unternehmerinnen meinen, eine Familienverfassung sei bloß ein Schriftstück, das im Regal verstaubt. Worauf kommt es an, um den Zuspruch der Familie einzuholen, damit die Verfassung auch mit Leben gefüllt wird?

Je größer und diverser die Familie, desto komplexer ist die Ausgangssituation. Dabei sind gleich zu Beginn eines gemeinsamen Inhaberstrategieprozesses die individuelle Haltung, persönliche Bedürfnisse, Interessen und unterschiedliche Präferenzen aller Beteiligten tiefgründig zu erkunden. Die Verantwortung einer guten Moderation ist es hier, ausreichend Zeit, Raum und Empathie für jede:n Einzelne:n mitzubringen und - falls notwendig - auch Einzelgespräche zu führen. So schafft man von Anfang an eine offene und persönliche Kommunikation und vertrauensvolle Atmosphäre. Denn nur wenn jede:r sich gehört fühlt, können gemeinsam erarbeitete Inhalte wirklich Identifikation und Orientierung stärken. Wenn der Erstellungsprozess von der gesamten Familie gemeinsam getragen wird, können Family-Governance-Maßnahmen wie zum Beispiel Familienaktivitäten, Fortbildungen und philanthropisches Engagement dazu beitragen, den Familienzusammenhalt zu stärken und langfristig zu sichern. Ziel der Inhaberfamilie sollte dabei sein, von Beginn an ehrlich mit sich selbst zu sein und realistische Maßnahmen festzuhalten, die Spaß machen und umgesetzt werden. Wichtig ist, dass die Familie sich dann auch zeitnah auf mindestens ein Familienmitglied einigt, das sich verantwortlich fühlt, diese Maßnahmen für die Familie zu planen, zu koordinieren und letztendlich auch umzusetzen. Dennoch bedarf es der Unterstützung - emotional wie finanziell - der gesamten Inhaberfamilie. 

Wie sieht eine erfolgreiche Family Governance denn genau aus?

Darauf gibt es keine universelle Antwort. Jedes Familienunternehmen und jede Inhaberfamilie ist so verschieden und einzigartig, dass es keine einheitliche Empfehlung für eine gute Family Governance geben kann. Eine passende Lösung ist abhängig von der Familien- und Unternehmensgröße, dem Grad der Diversität und Internationalität, der Geschichte sowie dem Werte- und Zieleverständnisses der Inhaberfamilie. Familien sind lebende Organismen, daher muss eine Family Governance auch so lebendig und dynamisch gestaltet sein, wie die Familie. Ab einer gewissen Komplexität in der Familie steigt der Bedarf einer „Organisation“ mit eigenen Strukturen und Prozessen, widergespiegelt in einer professionellen Family Governance. Auf diese Weise schafft sie Zusammenhalt innerhalb der Inhaberfamilie und trägt folglich dazu bei, den Erhalt des Unternehmens in Familieneigentum langfristig zu sichern.

Können Familienverfassungen nicht auch zu Überregulierung und Frustration führen?

Es ist richtig, dass durch den gemeinsamen Erarbeitungsprozess einer Familienverfassung bestehende Strukturen und Verträge überdacht und teilweise erneuert oder ergänzt werden. Dessen sollte sich jede Familie bewusst sein. Dies ist aber auch gut so, da wir häufig erleben, dass die Gesellschaftsverträge oder Satzungen der Familienunternehmen viele Jahre alt sind und nicht mehr zu den aktuellen Unternehmens-, Governance- oder Inhaberstrukturen passen. Auf Corporate-Governance-Ebene werden beispielsweise Abläufe in Bezug auf Informations- und Entscheidungsprozesse sowie Mitwirkungsmöglichkeiten geregelt. Auf Family-Governance-Ebene werden ein gemeinsames Verständnis zur Konfliktvermeidung, der Umgang miteinander und die Haltung zu einer professionellen, unternehmerischen Verantwortung festgelegt. Die Gefahr dabei ist, dass zu viele oder nicht passende Governance-Maßnahmen als ein enges, einschnürendes Korsett verstanden werden, was schnell zu Unverständnis, Frustration oder Abneigung einzelner Familienmitglieder führen kann. Dadurch kann die Wirkungskraft einer Familienverfassung in der erfolgreichen Umsetzung stark beeinträchtigt werden. 

Wie kann dem entgegengewirkt werden?

Eine Familienverfassung darf nicht als Compliance, sondern muss als Commitment verstanden und empfunden werden! Was da hilft? Eine offene Haltung, ehrliche und transparente Kommunikation, echte Veränderungsbereitschaft und die kontinuierliche Arbeit an einem Familienzusammenhalt und dem Zugehörigkeitsgefühl aller Beteiligten. Die gemeinsame Erarbeitung einer Familienverfassung ist nur der Anfang, der Prozess und die Arbeit an den Themen hört nie auf! Wenn der Weg das Ziel ist, warum hört man auf zu gehen? Genauso wichtig ist die Festlegung von Verantwortlichkeiten für die Umsetzung bestimmter Maßnahmen sowie die Bereitstellung entsprechender Ressourcen (Zeit, Geld, Personen) seitens der Inhaberfamilie. Ich erfahre leider immer wieder, dass eine strukturierte und professionelle Handhabung von Family-Governance-Maßnahmen und wesentlicher Einzelthemen nicht hinreichend von der Familie vorbereitet und anschließend umgesetzt wird. Hier liegt vermutlich die größte Herausforderung: sich innerhalb der Familie als Arbeitsteam zu verstehen und zu organisieren. Bestenfalls fängt das Family Commitment daher nicht erst mit der Unterzeichnung der Familienverfassung, sondern schon viel früher an!

Gibt es Best Practice Cases, wo dies erfolgreich gelingt? 

Ja, natürlich! Es gibt große Familiendynastien, die ihre Family-Governance-Aktivitäten durch eine familienfremde Person betreuen lassen und mithilfe von familieneigenen Intranets und Apps koordinieren. Bei mehreren hundert Gesellschafter:innen ist das natürlich ein Fulltime-Job. Die meisten Familienunternehmen sind jedoch nicht so groß, dass sie sich dies leisten können oder wollen. Oftmals wird in diesen Fällen aus dem Kreis der Familie eine Person ausgewählt, die die Family-Manager-Rolle parallel zu ihrer eigentlichen beruflichen Tätigkeit ausübt. Den Beteiligten muss dabei jedoch klar sein, dass die Tätigkeit als Family Manager sehr zeitaufwendig, energieraubend und umfassend sein kann. Dies ist häufig auch mit einer Arbeitsreduktion im Hauptberuf und mit finanziellen Einbußen verbunden, was meines Erachtens dann auch Berücksichtigung bei der Wertschätzung und Entlohnung dieser Rolle im Kreise der Inhaberfamilie finden sollte. In Gesprächen mit Nachfolger:innen, die die Rolle des Family Managers übernommen haben oder dies in Erwägung ziehen, stelle ich fest, dass die meisten nicht daran glauben, ihren Einsatz für das Familienunternehmen und ihren eigenen Beruf unter einen Hut zu bekommen. Sie haben Zweifel, ob sie ihrer Familienrolle gerecht werden, da ihr Engagement nur „nebenherläuft“ und die Familien-intern definierten Maßnahmen nicht priorisiert werden können. Anders als auf der Unternehmensebene werden die Führungs- und Kontrollfunktionen auf Familienebene oft nur mäßig ausgestaltet und definiert. Hier liegt meines Erachtens ein großes Potential für die erfolgreiche Umsetzung von Family-Governance-Maßnahmen, das oftmals vernachlässigt oder gar nicht gesehen wird. 

Also bedarf es bei der Erarbeitung einer Inhaberstrategie mehr Aufmerksamkeit für Family-Governance-Themen?

Gemeinsames Verständnis einer Inhaberfamilie sollte es mindestens sein, ein stabiles Umfeld für das gemeinsame Unternehmen zu schaffen. Dazu gehört die tiefgründige Auseinandersetzung mit einer gemeinsamen Haltung zu einer professionellen, unternehmerischen Verantwortung. Best Practices stellen sicher, dass ein Governance-System flexibel genug sein muss, um allen Familienmitgliedern die Möglichkeit zu geben, Teil des Systems zu sein, in bestimmten Fällen ihr Engagement ruhen zu lassen oder es zu verlassen. Eine Familienverfassung wirkt auf Family-Governance-Ebene ausschließlich moralisch bindend, und fördert im Idealfall die intrinsische Motivation zur Mitgestaltung und das individuelle Commitment aller Beteiligten. Dass sich dies in der Praxis oft nicht ohne weiteres realisieren lässt, ist nachvollziehbar. Deshalb ist es erforderlich, dass das System sich stetig an Veränderungen innerhalb der Familie und deren Umgebung anpassen lässt. Also bedarf es einer kontinuierlichen und nachhaltigen Aufmerksamkeit für Family-Governance-Themen.

Das klingt aufwendig und komplex. Wie könnte man denn aus Deiner Sicht das Potential und die Wirkungskraft von Family-Governance-Maßnahmen erhöhen?

Zum einen ist es die Aufgabe einer guten Moderation während eines Inhaberstrategieprozesses das Bewusstsein für die hohe Bedeutung von Family Governance zu schaffen und Family Commitment kontinuierlich zu erzielen. Potentiale gilt es gemeinsam mit der Inhaberfamilie zu erkennen und aufzudecken, um daraus strukturiert und konkretisierend Maßnahmen abzuleiten sowie klare Zuständigkeiten festzuhalten. Zum anderen ist es dann Aufgabe der Inhaberfamilie und jedes Einzelnen am Ball zu bleiben und Verantwortung für das gemeinsame unternehmerische Engagement zu übernehmen. Wenn dies innerhalb der Familie in Form einer Family-Manager-Rolle nicht realisierbar ist, empfiehlt es sich, regelmäßig auf familienfremde Unterstützung zurückzugreifen. Dies spiegeln mir auch viele Nachfolger:innen wider, mit denen wir zusammenarbeiten. Sie wünschen sich eine größere Bereitschaft der Inhaberfamilie, in Family Governance zu investieren und den definierten Maßnahmen Bedeutung zu schenken. Fakt ist: Nur wer ausreichend Zeit, Kommunikation und Ressourcen aufbringt, erzielt langfristig Einigkeit und Zusammenhalt auf Familienebene. Gespräche mit Gleichgesinnten in unseren Netzwerken helfen auch, um sich über Erfahrungen und Best-Practice-Fälle auszutauschen und sich gegenseitig zu inspirieren und zu motivieren. Das enorme Potential von Family Governance darf nicht unterschätzt und ungenutzt bleiben – es gibt viele Möglichkeiten, sich individuell einzubringen und das Commitment der Familie zu erhöhen!