Können wir alles haben? Ein Denkanstoß zum Balanceakt

Unsere Partnerin Martina Reischmann stammt aus einem süddeutschen Familienunternehmen und kennt die Herausforderungen und Überlegungen der Next und Now Gen zwischen Nachfolgethematik, den eigenen Wünschen und der Kollision mit den Anforderungen des realen Familienlebens nur zu gut. In einem sehr persönlichen Beitrag für das Buch „Frauen schaffen Zukunft - Unternehmensnachfolge“ berichtet sie über ihren Weg diesen Balanceakt zu bewältigen.

Martina Reischmann

 

„Du willst immer alles“, sagte mein Mann neulich zu mir. Und so ganz unrecht hat er damit nicht. Wir leben in einer Welt, in der uns u. a. durch Social Media kontinuierlich suggeriert wird, was alles möglich ist. Das kann inspirieren oder auch frustrieren, je nachdem, wo wir mit unserer eigenen Lebenszufriedenheit und unseren Ambitionen aktuell stehen. 

In meiner Profession als Begleiterin und Coach in Nachfolgeprozessen begegnet mir das Thema regelmäßig. Seniorunternehmer, die ihr Leben zu 100 Prozent dem Unternehmen gewidmet haben und Next Gens, die parallel zur Führung des Familienunternehmens ein aktives Familienleben führen wollen, Start-ups gründen oder Freunden und Hobbys mehr Zeit einräumen möchten – sie wollen eben „alles“. Damit Übergaben „trotzdem“ gelingen, sprich unternehmerisch erfolgreich und mit den Vorstellungen der Next Gens von persönlichem Lebensglück vereinbar sind, braucht es einen intensiven Diskurs über die Definition von Erfolg, der Priorisierung von Zielen und exzellente Selbstführung. Dieses zentrale Thema – insbesondere für die weibliche Nachfolge – möchte ich hier beleuchten.

Während die Rollenmodelle vor 100 Jahren noch eng gefasst waren, haben Frauen – und auch Männer – heute grundsätzlich das Privileg vielfältiger Lebensmodelle. Daraus resultiert die Anforderung, herauszufinden, was zu uns passt und dieses Rollen- bzw. Familienmodell mit unserem Partner, der Familie, dem Seniorunternehmer bzw. Arbeitgeber zu diskutieren.

Viele Nachfolgerinnen haben – wie ich auch – einen Vater als Role Model erlebt, der sich 24/7 für das Familienunternehmen eingesetzt hat. Schon als Teenager habe ich mir die Frage gestellt, wie ich als Frau die Rolle der Unternehmerin mit meinem Kinderwunsch vereinbaren könnte. Vorbilder fehlten mir damals.

Heute habe ich das Glück, einige Nachfolgerinnen zu kennen, die solche Modelle leben. Was sie eint, sind eine große intrinsische Motivation, ein hoher Anspruch an sich selbst und eine große Freude daran, Dinge zu verändern. Was sie ebenfalls eint, ist die zeitliche Herausforderung, all das, wofür sie brennen und stehen wollen, unter einen Hut zu bekommen und dabei den vielfältigen Rollen und der großen Verantwortung gerecht zu werden. Dabei bewegen sich viele immer wieder nur knapp unterhalb der Belastungsgrenze. Ein gefährliches Unterfangen.

Im Kern ist die Herausforderung vieler Nachfolgerinnen in der „Rushhour“ des Lebens die, dass unsere hochgesteckten Ziele in vielen Bereichen mit der begrenzten Ressource Zeit im Widerspruch stehen. Abgeleitet daraus sind dies auch die beiden Hebel, an denen wir ansetzen können, um etwas zu verändern. Da es sich oft erst mal schlecht anfühlt, die eigenen Ziele (sowohl die unternehmerischen als auch die persönlichen) nach unten zu korrigieren, da es unserem inneren Anspruch widerspricht, versuchen wir uns selbst weiß zu machen, dass wir uns nur (noch) besser organisieren müssen, (noch) effizienter arbeiten müssen, quasi die Zeit austricksen müssen, damit wir unsere hochgesteckten Ziele doch erreichen können. Darin liegt eine große Gefahr. Wir werden Getriebene im eigenen System. Wenn wir uns stattdessen als aktive Gestalterinnen unseres eigenen Lebens verstehen wollen, braucht es beides: Die Bereitschaft, die eigenen Ziele zu überdenken und ggf. anzupassen und darüber hinaus die aktive Auseinandersetzung damit, wohin unsere Zeit aktuell fließt und wohin sie zukünftig fließen sollte. 

 

1. Nachfolgerinnen brauchen eine klare Ausrichtung an individuellen Zielen

Akzeptieren wir eine von außen kommende gesellschaftliche Definition von Erfolg vor unserer eigenen, jagen wir den falschen Zielen hinterher. Definieren wir Erfolg hingegen als die Erreichung unserer selbst gesteckten Ziele, so sitzen wir selbst im „Driver Seat“. Im Kontext der Nachfolge bedeutet das, dass wir die Zielsetzung und auch die Arbeitsweise der Seniorgeneration nicht einfach übernehmen, sondern an unsere eigenen Vorstellungen, Stärken und Lebensumstände anpassen. Individuelle Ziele für sich herauszuarbeiten, ist im wahrsten Sinne des Wortes Arbeit. Dafür braucht es die Fähigkeit zur Selbstreflexion sowie die Bereitschaft zur schonungslosen Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Wenn wir bereit sind, die eigenen Grenzen anzuerkennen, werden die Ziele, die wir uns setzen, realistischer und passender. Haben wir unsere Ziele auf Basis der eigenen Stärken und Grenzen definiert, muss eine Zielhierarchie folgen, da diese es uns im Alltag deutlich erleichtert, nachhaltig richtige Entscheidungen zu treffen.   

Jede Entscheidung hat Konsequenzen und Kosten, derer wir uns bewusst sein müssen. Denn eine Entscheidung für etwas beinhaltet auch die Entscheidung gegen etwas anderes. Ich persönlich habe mich entschieden, dass Familie für mich einen hohen Stellenwert hat. Gleichzeitig war mir immer klar, dass ich beruflich ambitioniert bin und hohe Ansprüche an meine persönliche Entwicklung stelle. Wenn ich beides anstrebe, geht dies mit dem Preis einher, dass die Tage oft vollgepackt sind und es sehr guter Organisation, Selbstführung und Unterstützung bedarf.

Wenn ich mir klarmache, dass ich genau das will, weil ich meinen Beruf liebe und daraus viel Positives ziehe, fällt dies leichter. Diese innere Haltung und das Wissen, dass ich diese Entscheidung auch heute wieder genauso treffen würde, ist in herausfordernden Situationen sehr hilfreich. Es fällt mir dann leichter zu sagen, dass es ein Glück ist, beides vereinbaren zu können, statt damit zu hadern, beiden Lebensbereichen nicht zu 100 Prozent gerecht werden zu können.

Wenn es darum geht, uns selbst und unseren Zielen (auch gegen Widerstände) treu zu bleiben, hilft ein Netzwerk an Nachfolgerinnen, die mit uns in die gleiche Richtung schauen, die unsere Situation nachempfinden können, die aus der eigenen Erfahrung Impulse mitgeben und uns motivieren können dranzubleiben.

 

2. Der bewusste Umgang mit der knappen Ressource Zeit

„Ich habe gerade einfach keine Zeit dafür.“ Ein Satz, den ich oft höre und auch schon oft genug selbst gesagt habe. Dabei ist er einfach nicht richtig! Wir alle haben Zeit. Was wir mit dieser Zeit anfangen, ist eine Frage unserer Prioritäten und manchmal eine Frage der Disziplin. Seitdem ich mir das bewusst gemacht habe, habe ich beschlossen, die Formulierung zu ändern in „ich habe aktuell andere Prioritäten“. Dies hat zur Folge, dass sich der Aussage automatisch die Frage anschließt: Ist das richtig? Ist das, was ich jetzt tue, wirklich das, was mir aktuell am wichtigsten ist? Gerade als Nachfolgerin ist es wichtig, frühzeitig zu lernen, welche Themen so zentral sind, dass ich sie selbst erledige, welche ich delegiere und zu welchen ich „Nein“ sage (das gilt im Privaten wie auch beruflich).

Seit ich Kinder habe und sehe, wie sich deren Bedürfnisse und Fähigkeiten im Eiltempo verändern, denke ich das Leben viel mehr in Phasen. Ich habe ein klares Bild davon, dass ich vielfältige Rollen ausfülle (Unternehmerin, Coach, Ehefrau, Mutter, Nachfolgerin etc.) und dass sich der Schwerpunkt der einzelnen Rollen auch in Abhängigkeit von meinem Umfeld verändert. Je kleiner meine Kinder waren, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass sie mich brauchten. Dem wollte ich gerecht werden und Raum geben. Je größer sie nun werden, desto flexibler werden die Betreuungs-Modelle und umso mehr Spielraum empfinde ich für mich selbst. Aktuell hat sich mein Mann – trotz erfolgreicher Karriere – aktiv dafür entschieden, seine Zeit zu 100 Prozent den Kindern zu widmen. Meinem Eindruck nach profitiert die gesamte Familie davon. Die Kinder erleben andere Rollen-Modelle, wir als Ehepaar lernen die andere Seite dieser tradierten Modelle kennen, mit all den Anforderungen und Vorzügen, die jeweils damit verbunden sind, und wir lernen uns selbst besser kennen, weil wir uns aus der Komfortzone bewegen und uns ein Stück weit neu erfunden haben – individuell und als Familie. Meine Sorge, dass sich die stark reduzierte Zeit, die ich aktuell für unsere Kinder habe, negativ auf meine Beziehung zu ihnen auswirkt, hat sich für mich persönlich nicht bewahrheitet. Da die momentane Ausrichtung sehr gut mit meinen Stärken und auch mit meinen Bedürfnissen im Einklang steht, kann ich den Kindern in der Zeit, die wir gemeinsam verbringen, viel mehr geben und besser auf sie eingehen, als ich das vorher konnte. Die Qualität der gemeinsamen Zeit hat sich deutlich verbessert, während die Quantität sich reduziert hat. Für mich fühlt sich das stimmig an und ich bin dankbar, einen Mann an der Seite zu haben, mit dem ich über Alternativen sprechen kann, wenn sich dieses Gefühl ändern sollte – das gilt natürlich beidseitig.

 

Mit all diesen Überlegungen sind wir nicht allein. Wir sind Teil eines Systems und immer in gewisser Weise auch abhängig von anderen. Während die Wirtschaft nach wie vor stark von Wettbewerb getrieben ist, spüre ich, dass einige Nachfolgerinnen dazu einen Gegenpol bilden möchten. Gerade dann, wenn wir vielfältige Rollen haben, unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden wollen, flexibel auf unerwartete Situationen reagieren müssen, brauchen wir starke Teams. Innerhalb unseres Unternehmens brauchen wir Führungskräfte, die mit hoher Selbstständigkeit agieren und mit uns in die gleiche Richtung schauen – auf der privaten Seite brauchen wir ein Support-Netzwerk von Menschen, auf das wir uns zu 100 Prozent verlassen können und die eine hohe Flexibilität mitbringen. Nachfolgerinnen können das gezielt nutzen, da die Verantwortung, die sie tragen, oft mit einem gewissen Gestaltungsfreiraum der eigenen Rolle und des eigenen Teams einhergeht.

Mein Fazit ist, dass wir das Glück haben in einer Zeit zu leben, in der sehr vieles möglich ist. Gleichzeitig sollten wir uns nicht blenden oder frustrieren lassen von denen, die den Anschein erwecken, dass wir mit Leichtigkeit alles haben können, sondern offen über die Herausforderungen und Lösungsansätze für die „Rushhour“ des Lebens sprechen und uns dabei gegenseitig unterstützen.


 

Drei Fragen an Martina Reischmann


Welche Fragen hast du dir gestellt, um über die Nachfolge zu entscheiden?

Meine Fragestellungen in Bezug auf die Nachfolge waren in jeder Lebensphase unterschiedlich. Mit 18 Jahren war es für mich insbesondere wichtig, mich so zu qualifizieren, dass ich jederzeit in unser Familienunternehmen eintreten kann, aber nie muss. Als es dann konkret um einen Einstieg ging, habe ich mich gefragt: Werde ich damit glücklich? Kann ich eine so große Verantwortung tragen und gleichzeitig Momente der Ausgelassenheit und Freiheit empfinden? Bin ich die Richtige, um dieses Unternehmen wirklich nach vorne zu entwickeln und wenn ja, wie würde ich dies tun? Was wären die Hürden und Widerstände, denen ich begegnen würde? Welche meiner Stärken und Ressourcen könnte ich nutzen? Wie würde ich mich persönlich verändern und entwickeln, wenn ich die Nachfolge antrete?

Heute gehe ich beruflich darin auf, ebensolche Fragen mit Nachfolger:innen im Rahmen von Coachings zu diskutieren und individuelle Antworten darauf zu finden.


Wenn du keine Nachfolgerin geworden wärst – welchen Beruf hättest du dann heute?

Tatsächlich lebe ich heute meinen „Plan B“. Ursprünglich hatte ich vor, als älteste der sechsten Generation die Nachfolge in unserem Familienunternehmen anzutreten – gemeinsam mit meinem Mann. Das Familienunternehmen wurde damals von meinem Vater und meinen beiden Onkeln geführt. Während mein Vater von unseren Plänen begeistert war, haben seine Brüder mit Skepsis reagiert. Aus heutiger Sicht für mich nachvollziehbar. Beide haben eigene Kinder und da sie jünger sind als mein Vater, war die Nachfolge für sie damals gedanklich noch weit weg. Nach einem mehrmonatigen Prozess, der für uns als Familie herausfordernd war, wurde entschieden, dass nur einer von uns einsteigen dürfte. Daraufhin habe ich abgelehnt und bin meinen eigenen Weg gegangen, was für meinen Vater und mich ein sehr emotionaler Moment war. Dieser Prozess und generell meine Wurzeln im Familienunternehmen haben meine spätere Berufswahl entscheidend geprägt.

Vor drei Jahren habe ich mich als Coach und Beraterin für Unternehmerfamilien in Nachfolgeprozessen selbstständig gemacht und mich kurze Zeit später als Partnerin der PETER MAY Gruppe angeschlossen. Die Gründung war ein sehr spannender und prägender Prozess für mich. Ich habe mir viel Zeit genommen, um zu überlegen, wo meine Stärken liegen, was mich in meinem Kern ausmacht, wofür ich stehe und was ich geben kann und will. Heute bin ich Sparringspartnerin vieler Unternehmerfamilien und im besonderen Maße auch vieler Nachfolgerinnen. Dazu beitragen zu können, dass Nachfolge gelingt, ist jeden Tag aufs Neue Motivation und Erfüllung für mich.   


Wer waren deine wichtigsten Mentoren?

Sehr inspiriert hat mich Prof. Dr. Peter May. Eine von vielen Erkenntnissen aus gemeinsamen Gesprächen: Man kann viel von anderen lernen und sich inspirieren lassen, letzten Endes geht es aber darum, den eigenen individuellen Weg und Stil zu finden. Heißt: Es ist nicht erstrebenswert, möglichst gut in die Fußstapfen eines anderen zu treten, vielmehr geht es darum, jeden Tag daran zu arbeiten, die „beste Martina“ zu werden, die ich sein kann.

Ebenfalls Vorbild, Mentor und Inspiration für mich – besonders als Unternehmer – ist mein Vater. Er hat mir vorgelebt, an die eigenen Ideen und eine übergeordnete Vision zu glauben, auf die eigene Kraft zu vertrauen und diese auch umzusetzen.

 

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: Nadine Kammerlander und Claudia Rankers (Hg.): Unternehmensnachfolge. 3. Band der Reihe „Frauen schaffen Zukunft“, Frankfurter Allgemeine Buch, September 2023. Sie können das Buch über den Shop des FAZ-Verlags bestellen.